Natürlich ist es einem klar, dass die Linie in der Malerei eine große Rolle spielt … (Ausstellungsansicht Die Linie, Heidi Horten Collection, 2025, Foto: Simon Veres, © Heidi Horten Collection)
Aber welche? Und wie bedeutend kann eine Linie eigentlich in einem Kunstwerk sein? Kann sie es gestalten? Kann eine einzige Linie ein Kunstwerk ausmachen?

Nicht nur diese Fragen werden in der neuen Ausstellung in der Heidi Horton Collection beantwortet. Die von Véronique Abpurg kuratierte Schau lädt uns Besucher ein, die Linie einmal genauer zu betrachten und ihr vielleicht auch die Wichtigkeit zu geben, die ihr zukommt.

Ihre verschiedenen Erscheinungsformen und Umsetzungen zu betrachten und auf sich wirken zu lassen. Bilder vielleicht einmal von einer anderen Warte aus – eben der Linie – zu betrachten und ihren Einfluss auf das Gesamtwerk zu erleben.

Zugegeben, eine neue Sichtweise für mich, auf die ich ohne die kundigen Einführungsworte der Kuratorin vielleicht gar nicht gekommen wäre. Natürlich fallen einem die Linien in manchen Werken als wichtiges Gestaltungselement sofort auf: Was wäre schließlich Keoth Harin oder Roy Lichtensteins Werke ohne ihre Konturen? Auch das Porträt de Risbianca Skira ist ohne Linie nicht vorstellbar. Aber es gibt noch mehr …

Die Ausstellung gliedert sich in fünf thematische Kapitel, die es zu entdecken gilt. Dabei geraten die Linien in Bewegung, treten in den Raum und können auch zum Instrument werden, um die Welt, in der wir leben zu beschreiben, aber auch zu hinterfragen.
Form und Kontur
Hier gilt die Linie als Ursprung – als Umriss, der die Figur und den Gegenstand erkennbar macht und zugleich eine Auflösung vorbereiten kann.

Viele dieser Werke haben mich schon immer fasziniert. Wie ist es einem Künstler möglich, mit so wenigen, aber gezielt eingesetzten Linien/Strichen Figuren, Gesichter, Ausdruck zu vermitteln.

Präzise gesetzt – auf das wichtigste reduziert – oder es werden einzelne Linien verdichtet, die dann in ihrem Zusammenspiel Neues erkennen lassen – einfach nur faszinierend.
Zwischen Schrift und Bild
Hier wird die Linie zur Trägerin von Sprache, montierte Textfragmente und Symbole werden zu codierten Bildsystemen, Bedeutung wird im Wechselspiel von Licht und Schatten lesbar, Sprache wird mit Sinn verschränkt und – bei Franz West – Wittgensteins „Sinnlos-Schleife“ in humorvolle, benutzbare Skulpturen transformiert.

Die Linie in Bewegung
Dynamik wird zur Form und macht die Entstehungsbewegung der Linie unmittelbar erfahrbar, kreist zwischen Bild und Apparat, in der Kinetik der 1960er Jahre geraten Linien wortwörtlich in Schwingungen, Dreh-Rasterbilder entstehen und binden den Betrachtenden ein, Linien springen optisch oder setzen Wasser minimal in Bewegung.

Die Linie im Raum
Die Linie wird hier zum seriellen, raumschaffenden und -strukturierenden Prinzip, Räume werden durch Leuchtstoffröhren neu aufgeladen, Acrylfäden schaffen fragile, prägnant Raumzeichnungen, Linien aus Aluminiumklebeband vermessen Atelier, Stadt und Galerien, hinterfragen gesellschaftliche und räumliche Ordnungen. Linien werden in Röhren verpackt und entziehen sich damit dem Blick des Betrachters.

Grenze, Transition und Verbindung
In diesen Werken wird die Kritik an politischen Systemen und an Fehlentwicklungen unserer Zeit wohl am deutlichsten sichtbar.

Switzerland Foto: David Aebi
Fragile Netze erinnern an beschädigte Zäune, an Kontrolle und Widerstand, Grenzen und Räume der Angst werden hier mit Linien und Netzen aus Linien sichtbar gemacht, Linien aus Klebstoff macht Brüche auf einem Keramikteller sichtbar und erinnert an koloniales Erbe, politische Grenzen und Migrationsrouten werden ebenfalls mit Linien sichtbar gemacht, Interaktionen initiiert, aber auch Vernetzung und Verbundenheit hergestellt.

Foto: kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez
Es ist eine große Spannweite, die in dieser Ausstellung sichtbar gemacht wird. Die Linie wandelt sich in der Schau in Material und Funktion, wird zum Medium von Idee, Haltung und Beziehung zwischen Kunst und Gesellschaft.

Foto: kunst-dokumentation.com / Manuel Carreon Lopez
Und vermittelt dem Betrachter – mir zumindest – eine ganz neue Sichtweise auf viele Kunstwerke. Schaut vorbei – zu sehen gibt es Werke von:
Pierre Alechinsky, Marc Adrian, Karel Appel, Kader Attia, Jean-Michel Basquiat, Pierre Bismuth, Angela Bulloch, Rosemarie Castoro, Christo und Jeanne Claude, Marie Cool & Fabio Balducci, Carola Dertnig, Marcel Duchamp, Fred Eerdekens, Amy Feldmann, Dan Flavin, Lucio Fontana, Günther Förg, Lucian Freud, Gego (Gertrud Goldschmidt), Antony Gormley, Keith Haring, Kiluanji Kia Henda, Alexej Jawlensky, Donald Judd, Birgit Jürgenssen, Reena Saini Kallat, Žilvinas Kempinas, Paul Klee, Gustav Klimt, Edgar Knoop, Joseph Kosuth, Brigitte Kowanz, Alfred Kubin, Edward Krasiński, Constantin Luser, Piero Manzoni, Agnes Martin, Henri Matisse, Vera Molnár, François Morellet, Nick Oberthaler, Pablo Picasso, Giulia Piscitelli, Jackson Pollock, Sigmar Polke, Helga Philipp, Sonia Sanoja, Fred Sandback, Egon Schiele, Chiharu Shiota, Cy Twombly, Andy Warhol, Franz West.
Zur Ausstellung ist auch ein Katalog erschienen.

Foto: Doug Eng Copyright 2025 und die Künstlerin
Wer mehr über die Ausstellung und damit über die Bedeutung der Linie erfahren möchte, sollte sich unbedingt einer Führung anschließen, die jeden Sonntag um 15:30 Uhr stattfindet. Außerdem gibt es auch zu dieser Ausstellung die „free Thursday lates“, „Babypause“ zur Ausstellung und Familienworkshops. Genaue Termine, Preise und Onlinetickets unter www.hortencollection.com

Die Heidi Horten Collection ist täglich außer Dienstag von 11:00 bis 19:00 Uhr geöffnet. Donnerstag von 11:00 bis 21:00 Uhr.
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